Meaning Making: in der Trauer Sinn rekonstruieren
Der Tod eines nahen Menschen bedeutet für viele Hinterbliebene auch der Verlust von Selbstverständlichkeiten, die bis dahin ihr Selbstbild gefestigt hatten. Das ins zum Beispiel Rollen in der Familie oder im Freundeskreis, der Glaube, dass Geschehnisse sinnvoll sind, oder Gewissheiten über die eigene Lebensgeschichte. Dann stehen sie vor der Aufgabe, Teile der Lebenserzählung neu zu schreiben.
Zeitgemäße Trauer-Modelle nennen das “Rekonstruktion von Sinn”.
Das deutsche Wort „Sinn“ begegnet uns in mindestens zwei Ausprägungen:
1. Unsere fünf Sinne befähigen uns zur Wahrnehmung.
2. „Sinn“ beschreibt Zweck oder Ziel einer Sache, ihr „Wozu“. In dieser Bedeutung gibt Sinn einer Sache Bedeutung, lädt etwas über das rein Wahrgenommene hinaus auf.
Viktor Frankl (wie könnte ein Text über Sinn ohne ihn auskommen) spricht über drei Wege zum Sinn als Wozu: Der Mensch kann Sinn durch schöpferisches Tun, im bewussten Erleben oder durch Leiden erfahren. Einige Sätze mehr gibt es zum Beispiel auf der Website des Viktor Frankl Zentrum Wien.
„Sinn“ in Trauermodellen
Im Rückgriff auf Viktor Frankl und im Einklang mit neueren Trauermodellen identifiziert der amerikanischer Psychologe Robert A. Neimeyer „Sinn“ als zentralen Prozess in der Trauer. Es geht dabei um die „Suche des Einzelnen nach einer persönlichen Erzählung, die einer veränderten Realität „Sinn“ verleiht“.
Im Original „the individual’s unique quest for a personal narrative that ‘ makes sense’ of a changed reality“ (Neimeyer2001).
Das Ziel ist, „ein kohärentes Narrativ über das Selbst wiederherzustellen, das den Verlust integriert“.
Im Original: „to (..) reestablish a coherent self-narrative that integrates the loss.” (Neimeyer 2009).
Über Neimeyers wissenschaftlich getriebene Arbeit nimmt Chris Paul den “Sinn” in ihr Trauer-Kaleidoskop auf, wie sie im endlich-Podcast berichtet.
→ Hier geht es zur Folge des endlich-Podcasts mit „Chris Paul über Trauer und Schuld“.
Sinn rekonstruieren: Punkte durch Linien verbinden
Ich denke bei Neimeyers Modell an Sterne und wie sie zu Sternbildern werden: durch Linien, die wir zwischen den Lichtpunkten konstruieren.
Disclaimer: Ich erkenne außer dem Großen Wagen (als Teil der Ursa Major, siehe das Bild rechts) kein einziges Sternbild.
Am Nachthimmel sehe ich nur eine Menge Punkte, und die könnte ich so oder so miteinander verbinden … Sternbild-Malen ohne Zahlen sozusagen.
Die “vorgesehenen” Linien sehe ich dagegen (noch) nicht, die Sterne bleiben unverbunden. Sie formen für mich kein kohärentes (Stern-)Bild.
Bild rechts von WikiCommons: Fotografie des Sternbildes Ursa Major, Großer Bär.
Source | Own work: AlltheSky.com |
Author | Till Credner |
Und genau das gilt für viele Menschen in der Trauer: Was ihnen geschehen ist, ordnet sich noch nicht in ihre Lebenserzählung ein. Sie sehen die Punkte, aber noch keine Linien dazwischen, die ein Bild ergeben. Die Geschichte ist noch nicht schlüssig.
„Das macht alles keinen Sinn“, sagen wir in der Alltagssprache. Mit Neimeyer formuliert: Das Narrativ ist noch nicht kohärent.
Und ein zweiter Gedanke steckt für mich in der Analogie zu Sternbildern: Wie das Narrativ aussieht, ist eine Frage, welches Bild ich sehe – und damit der Deutung! Der Große Wagen im Sternbild Großer Bär wird im Englischen als „Big Dipper“ (Große Schöpfkelle) gesehen. In der griechischen Mythologie galten die drei Sterne der Deichsel dagegen als die Äpfel der Hesperiden. Und so geht es uns auch in der Deutung von Lebensereignissen: Manche Punkte werden Teil des Narrativs, und andere lassen wir außen vor.
Sinn in der Trauer finden als Prozess
Ich lese Neimeyer und Chris Paul als Fürsprecher für Trauer als Prozess (und Trauerbegleitung als Prozessbegleitung), damit Menschen dem Geschehenen eine neue, für sie hilfreiche Bedeutung zuweisen.
Dieses Verständnis gibt Trauerbegleitenden und dem Umfeld von Trauernden Hinweise, warum Trauernde bestimmte Schritte auf ihrem Trauerweg durchlaufen oder hilfreich finden.
Das hilft Trauernden bei der Sinn-Rekonstruktion
Erzählen lassen
Mit diesem Modell im Kopf verstehe ich, wenn manche Trauernde ihre Geschichte immer wieder erzählen möchten. Beim Erzählen lassen werden neue Linien zwischen den Lebensereignissen erzählerisch ausprobiert, verworfen oder durch Wiederholung belastbar gemacht.
Nicht selten sagen sie dabei übrigens, dass sie besser mit mir als unbekannten Person sprechen können als mit Familienmitgliedern. Vielleicht liegt es daran, dass ich ihre Lebenserzählung noch nicht kenne. Sie zeigen mir ihre Sternkarte zum ersten Mal und können neue Sternbilder durchs Erzählen ausprobieren.
Immer wieder erzählen lassen
Wenn Trauernde bei einer Begleitung über mehrere Wochen wiederholen, was ihnen geschehen ist, fällt auf: Es bleibt selten dieselbe Geschichte. In der Regel werden im Verlauf der Trauer manche Themen wichtiger und andere unwichtiger. Fragen nach dem eigenen Verschulden werden zum Beispiel nicht selten erst nach einigen Wochen thematisiert.
Ein Beispiel? Für die meisten Eltern, deren Kind gestorben ist, verändert sich die Antwort auf die Small-Talk-Frage nach Kindern im Lauf der Jahre und je nach Zusammenhang. Diese Veränderungen zeigen Trauerbegleitenden, dass sich etwas in der Trauer „bewegt“ – was für die Anpassungsleistung „Trauer“ wünschenswert ist. Und wir erkennen, welche Themen im jeweiligen „Jetzt“ Raum finden möchten.
Das Narrativ entwickelt sich also weiter, die Eltern erkennen Linien auf ihrer Sternkarte, die neue Sternbilder konstruieren.
Das gab es übrigens auch in der Astronomie, wie ein Blick auf die historischen Sternbilder zeigt.
Fakten in Erfahrung bringen
Um ein Sternbild zu entdecken, muss man die richtigen Sterne identifizieren. In der Trauer findet das eine Entsprechung, wenn für ein kohärentes Bild zusätzliche Daten-Punkte notwendig sind. Erinnert sich beispielsweise eine Mutter nach einer stillen Geburt kaum an den Ablauf der Geburt, helfen Gespräche mit den bei der Geburt anwesenden Personen, vom Partner (oder der Partnerin) bis zur entbindenden Hebamme.
In der Trauerbegleitung ermutige ich Eltern dazu, aufzuschreiben oder aufzusprechen, woran sie sich erinnern und diese Notizen zu erweitern, sobald ihnen weitere Details einfallen oder sie etwas Neues in Erfahrung bringen.
Austausch mit anderen Trauernden
Der große Wert vom Austausch in Selbsthilfegruppen ist: Andere Trauernde in einer ähnlichen Situation sehen zwischen den Sternen Linien, die man selbst noch nicht entdeckt hatte. Das kann sein, weil sie mit anderen Vorerfahrungen in ihre Trauer gestartet sind, weil bestimmte Glaubenssätze sie nicht behindern, weil der Verlust schon länger her ist – oder eine Unmenge anderer Gründe.
Ein Beispiel: Eine typische Frage von Teilnehmenden in der Trauergruppe ist die, wie sie mit ungelenken Reaktionen von Nachbarn oder Bekannten umgehen. Aus der Runde kommen dazu fast immer verschiedene Perspektiven, warum sich andere so verhalten; Berichte, wie man selbst mit einer ähnlichen Situation umgegangen ist; und Ideen, wie die Mit-Trauernden „heil“ aus der Sache rauskommt.
Diese Interpretationshilfe durch andere ist ein mächtiges Werkzeug, um Erzählungen wie „Keiner traut sich, mich anzusprechen“ zu einem „Vielleicht kann ich das Gespräch mit dieser Freundin ausprobieren“ zu transformieren.
Glaube, Spiritualität und Rituale
Ob gläubig oder nicht: Wenn Menschen mit dem Tod konfrontiert sind, entdecken viele ihre Spiritualität (wieder). Die Formen und ihre Deutung sind vielfältig wie die Menschen, die ich getroffen habe: ein Glaube an ein Wiedersehen oder Wiederkehren sein, das Wahrnehmen von Zeichen (Schmetterlinge, Regenbögen, Sterne), oder selbst so einfache Rituale wie ein Blick in den Himmel oder das Anzünden einer Kerze.
Nicht zuletzt der Glaube an einen Gott kann in der Trauer Orientierung geben, sozusagen ein Muster, in das das Unfassbare eingeordnet werden kann. Im Artikel über Trauer um Kinder im historischen Kontext zietiere ich das Gedicht einer gläubigen Mutter aus dem Jahr 1874, die den Tod zweier Kinder betrauert und zu ihrem Glauben in Beziehung setzt:
Oh, selfish mother-love! To dare,
To grudge God’s angels though aware
That he in mercy call them home—
Their little feet to never roam
In paths of sorrow or of sin,
But safe, in his loving arms within!
aus NursingClio.org
Zunehmende Stabilität durch kohärente Lebenserzählung
Mit der Zeit werden sich bei den weitaus meisten Trauernden feste Linien zwischen einigen Stern-Punkten bilden, andere Linien werden vielleicht über die Zeit noch verrückt. Das manchmal atemlos wirkende Erzählen in der frischen Trauer, das das Unbegreifliche endlich zu fassen bekommen möchte, wird seltener. Zusätzlich entscheiden die meisten Trauernden mit der Zeit aktiv, über welche Teile ihrer Geschichte sie wann und mit wem sprechen möchten. Sie entwickeln also verschiedene Versionen einer Geschichte – für sich selbst oder die im engsten Kreis, für vertraute Gespräche, für Smalltalk. Und alle Versionen sind kohärent.
Auf mich wirken sie dann wie Menschen, die selbst am Stadthimmel noch Sternbilder erkennen. Sie wissen, wie das ganze Bild aussieht und finden den Sinn, die stimmige Geschichte dahinter selbst mit wenigen Anhaltspunkten.
Weiterführende Blogartikel:
- Resilienz: Was ist das und kann man sie lernen?
verwandtes Thema und eigenes Forschungsgebiet. Im Blogartikel über Resilienz gibt es eine Zusammenfassung des Konzepts mit Bezug zu Trauer und Buchtipps. - SCARF-Faktoren zur Stärkung nutzen
SCARF-Faktoren beschreiben fünf menschliche Grundbedürfnisse. Im Artikel geht es darum, wie sie bei Trauernden gestärkt werden können.
zitierte Literatur:
- Neimeyer, R. A. (2001). The language of loss: Grief therapy as a process of meaning reconstruction. In R. A. Neimeyer (Ed.), Meaning reconstruction & the experience of loss (pp. 261–292). American Psychological Association. https://doi.org/10.1037/10397-014
- Neimeyer, R. A., et al (2009). Grief Therapy and the Reconstruction of Meaning (pdf) bei hospicewhispers.com